Mai10

Die Halligen

Ausgerechnet ein Österreicher findet die passende Beschreibung für die Halligen. Mit Worten, die Neugier erwecken:

"Hooge ist ein Land aus Torf, Schlick und Sand, von der See über den Untiefen und den Resten versunkener Moorlandschaften aufgeschichtet und dem Meeresspiegel doch zu nahe geblieben, um den Namen einer Insel zu erfüllen: Land von solchem Land heißt Hallig." (Christoph Ransmayr)

Stadtflucht

Während die meisten Hamburger ihre Alster lieben, bekomme ich von ihrem Anblick Kopfschmerzen. Nur wenige Schritte an ihrem überfülltem Ufer und es drückt auf meine Atemwege.

Warum? Weil mich dieser innerstädtische Stausee daran erinnert, dass es große, wilde Landschaften nur weit außerhalb dieser Metropolregion geben kann.

Also nichts wie raus aus Hamburg. Und der effektivste und konsequenteste Weg einer Stadtflucht führt genau 160 km in Richtung Nordwesten. Bereits hinter Itzehoe wächst der Himmel mit jedem Kilometer befreiender in die Höhe. Ab Heide verströmt die Luft bereits diesen frischen, würzigen Duft - ein erster Gruß der Nordsee.

 

Die graue Stadt am Meer

Zwischenstopp in Husum. Von seinem berühmtesten Einwohner Theodor Storm als „graue Stadt am Meer“ stigmatisiert und deshalb von der Touristenbehörde als „bunte Stadt“ beworben. Am alten Hafen von Husum kauft man direkt vom Kutter frische Krabben zum selber Pulen. Doch wir sind zu spät, der Krabbenverkauf ist bereits beendet – und das schon seit 20 Jahren.

Tja, was soll ich in meiner Untröstlichkeit deshalb von Husum berichten? Storm hatte recht: Diese Stadt ist grau, grau, grau.

Husum - graue Stadt am Meer
Husum - graue Stadt am Meer

Aber sie liegt am Meer. Ein Damm voller Schafe führt auf die einstige Insel Nordstrand, die damals zur Hälfte in den Fluten versank. Es geht immer weiter westwärts bis die Straße hinter einem letzten Deich endet. Strucklahnungshörn. So heißt der Hafen, von dem aus der Fährmann die Adler-Express mitten hineinsteuert in den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattemeer. Seit 2009 gehört er zum UNESCO-Weltnaturerbe und das zu Recht.

 

Eine Warnung

Doch bevor wir ablegen noch eine Warnung an alle potentiellen Nachahmer - der Fairness halber:

Wer im Wonnemonat Mai lieber seine nackten Arme in die laue Luft strecken will, wer lieber Cappuccino schlürfen oder Bierchen zischen möchte, der bleibe weg von der Nordsee, und zwar so weit wie möglich. Und wer ein wenig am gepflegten Strand schlendern will, der fahre an die Ostsee!

 

Doch wer sich hinaus nach Hooge wagt, der rüste sich: mit Funktionsunterwäsche, Merinowolle, Fleece, Soft-Shell, Wind- und Regenjacken und einer stramm sitzenden Mütze - verpackt wie eine Zwiebel. Dieser Aufzug lässt den Frühling zwar vergessen, macht einen Aufenthalt auf Deck aber überhaupt erst möglich. Vor allem bei diesem auffrischenden Wind aus Nordwest. 

 

 

Gespannte Blicke hinaus in ein graues Nichts. Vom Wind tränende Augenpaare suchen verzweifelt einen Fixpunkt, können aber nicht einmal einen Horizont ausmachen. Jetzt darf man auf keinen Fall aufgeben und in die Kajüte flüchten, denn bald wird sich sich ein winziger Punkt aus der grauen Suppe schälen. Er sieht aus wie ein einzelnes Haus, aber ohne Land drum herum. Und tatsächlich steht da ein Haus mitten im Meer. Einsam und schutzlos. Was soll das, wer will da wohnen?

 

Vom Festland zum Restland

Eine rundliche Frau mit roten Wangen liest meine Ratlosigkeit und entpuppt sich als Kennerin dieses Archipels. Das dort sei Habel. Mit der Fläche eines IKEA-Parkplatzes ist es die kleinste der zehn Halligen. Und sie schnackt weiter: Vor 1000 Jahren war hier alles Festland. Dann grub die Nordsee ihre Priele immer tiefer in’s Land, bis es schließlich 1362 bei einer gigantischen Flut komplett zerriss. Übrig blieben ein paar Fetzen Torfboden, auf denen sich die Überlebenden niederließen. 

Ihre Häuser errichteten sie auf künstlichen Erdwällen (Warften), weil das uneingedeichte Land vor allem im Winter mehrmals überspült wird - Landunter. Die Häuser auf den Warften werden dann zu einzelnen Rettungsinseln, die dem 'Blanken Hans' trotzen – so Gott will. Wenn Gott nicht will, heißt das Warftbruch.

Deshalb und weil der versalzene Marschboden kein Süßwasser mehr speichert, hatte dieses Land den Status einer Insel nicht verdient und wurde von da an als Hallig klassifiziert. Vom Festland zum Restland. Die meisten Halligen von damals sind längst versunken, neue sind aufgetaucht. Was wir hier so bedenklich knapp aus dem Wasser ragen sehen, ist eine Momentaufnahme. Habel wird jedes Jahr 60 mal überflutet.

Hooge – die Königen der Halligen - mit einem so genannten Sommerdeich immerhin 8 bis 10 mal pro Winter.

 

Idyllisches Hooge

Als wir dort an Land gehen, macht der unentwegt fegende Nordwestwind das Sprechen und Atmen zur Last. Das ist kein Wind mehr, das ist Sturm! Kein Baum, kein Strauch, kein Haus, das ihm die Schärfe nimmt. Es ist wie auf hoher See.

Dass man hier in diesem Reizklima alt werden kann, scheint ausgeschlossen. Umso erstaunter lesen sich die Jahreszahlen auf den Grabsteinen des Mini-Friedhofs auf der Kirchwarft. Die meisten Hooger wurden über 95 oder gar 100. Liegt das an der frischen Luft?

Flucht vor einer Überdosis Frische auf die Hanswarft. Immerhin 14 Häuser schmiegen sich hier auf der größten Warft von Hooge solidarisch aneinander, bilden mit ihren Innenseiten ein windgeschütztes Idyll. Endlich ein Platz für Kaffe, Kuchen, Zigarette. Die Sonne kommt mit hellen Strahlen. Sogar einen Teich mit Parkbank gibt es . Ein Walkiefer vor einem Hauseingang, zeugt vom früheren Standardberuf der Hooger Männer und in der Vitrine neben den Toiletten befindet sich eine aktuelle Ausstellung über die zwei größten Errungenschaften auf Hooge: „50 Jahre Strom- und 40 Jahre Wasserversorgung“. Moderne Zeiten, bequem und sicher.

 

Landunter

Doch dann geschah alles ganz schnell. Nahezu ohnmächtig mussten wir mit ansehen, wie die Fluten der aufgebrachten See heran rollten. Land und Wege, auf denen wir eben noch gelaufen waren, überspült von reißenden Wassermassen.
Im Sturmflutkino auf der Leinwand. Spätestens bei diesem Film wird einem klar, wie abgebrüht die knapp 300 Halligbewohner nach wie vor sein müssen. Manch verwegener Hooger hat es drauf bei Landunter, wenn der Orkan etwas nachlässt, von einer Warft zur anderen zu waten! In einer Wathose, das Wasser bis zum Bauch, ertastet er mit einer Art Blindenstock den Asphalt, der ihn zur rettenden Warft führt.
Ich verabschiedete mich von Hooge und seinen Bewohnern mit dem Gedanken „Mann, ihr habt echt Eier.“

 

Der Zauber des Watts

Auf der Rückfahrt greift der Nationalpark dann tief in seine Trickkiste und verzaubert mit einem Spiel aus Farben und Formen. Wie das Land und Meer sich mit den Jahrhunderten ständig verändert haben, so wechseln jetzt innerhalb von Minuten die Bilder.

Seehunde dösen auf einer goldglitzernden Sandbank, ein Krabbenkutter pflügt mit seinen Auslegern durch grünweißes Schaumwasser. Und mitten im Meer plötzlich eine Brandungswelle. Noch surrealer erscheinen zwei Warften. Wie fliegende Untertassen schweben sie zwei Finger breit über dem dem Horizont – eine Luftspiegelung. Steuerbords zieht das Watt blank. Die Silhouetten weit entfernte Menschengruppen stelzen wie Käfer über den Meeresboden. Backbord reihen sich die Warften von Langeneß wie an der Perlenkette gezogen. Immer wieder tauchen welche auf und verschwinden. Es ist fantastisch.

Ich schaue in das Gesicht meiner Freundin, zerzaust und glücklich, denn Hamburg ist mindestens tausend Meilen entfernt. Und in der urigen Seemanns-Klause am alten Hafen von Husum wird es gleich gemütlicher werden als in jedem sommerlichen Biergarten dieser Welt.