Ankunft bei strahlender Morgensonne in der 650.000-Einwohner-Stadt Cochabamba. Schnell einchecken und ganz schnell wieder raus aus dem Hotel, denn ich stelle fest: Beim Alleinreisen geht einfach nichts über den ersten Streifzug durch die neu zu entdeckende Stadt. Nichts wäre jetzt nerviger als ein Mitreisender, der nach der Ankunft im Hotelzimmer trödelt, während ich vor Ungedult mit der Hufe scharre - wissend, dass gerade ein Stück meiner Lebenszeit sinnlos verrinnt.
Froh und fidel wie ein junger Schlittenhund durch die Strassen von Cochabamba streunen. Das Tropenphlegma der vergangenen Tage ist in der kühlen, klaren Luft in diesem Tal auf 2600 Meter wie weggeblasen.
Knatternde Mofas, ein fliegender Händler bietet quäkende Transistorradios auf dem Bürgersteig feil. Von einem Schuhputzer abgefangen und angesteckt werden - mit seiner unbezwingbaren Leichtigkeit des Seins. In Anbetracht, dass sie mit nahezu todsicherer Gewissheit ein Leben lang von der Hand in den Mund leben werden, ist es mir jedes Mal unbegreiflich, welcher Frohmut aus den Augen der Schuhputzer spricht.
Während Pepe mit Putzbürste und Feuereifer über meine staubigen Adidas Sneakers herfällt, plappert er wie ein Wasserfall. Denn Schuhputzer sind mehr als nur Schuhputzer. Sie sind das unterhaltsamste und sozialste Medium der Stadt. Pepe ist heute meine sprechende Zeitung. Zunächst sein Wetterbericht: Die ganze Woche wird in Cochabamba die Sonne scheinen. Super! Dann ein Kommentar zur politischen Lage des Landes: Präsident Lozada werde sich nicht mehr lange im Amt halten. Bolivien brauche endlich jemanden, der die ausländischen Firmen verstaatlicht, damit Strom und Lebensmittel wieder bezahlbar werden. Warum? Bei eigener Recherche erfahre ich, dass hier vor nur drei Jahren der so genannte Wasserkrieg tobte. Nachdem auf Druck von IWF und ausländischen Konzernen die Wasserversorgung privatisiert wurde und sich der Wasserpreis verdreifachte, rebellierte das Volk von Cochabamba. Die Regierung rief in der wehrhaften Stadt das Kriegsrecht aus, es gab Tote. Und ein Happy End: Die Privatisierung zurückgenommen, das Volk hatte gesiegt.
Meine Schuhe sind sauber. Pepe und ich rauchen noch eine Zigarette. Während die innenpolitschen Meldungen des kleinen Mannes Hand und Fuß haben - Präsident Lozada wurde fünf Monate später gestürzt - sind seine Nachrichten zur Außenpolitik schlecht recherchiert. Sein Kommentar zu Deutschland eine Kaskade von Klischees und hanebüchener Unsinn. Die Deutschen sind alle reich - naja. Dort gibt es die besten Autos - kann sein. Gut im Fußball - ja. Hitler war auch gut - ähhh.... Nein verdammt! Ich erkläre dass Hitler furchtbar war, Millionen Tote und der Krieg verloren. Darauf Pepe: "Aber am Anfang hat Hitler viele Länder besiegt, das war stark. Bolivien hat immer schnell verloren im Krieg gegen Peru und Chile." Da hat Pepe recht. Bolivien war schon immer der totale Loser-Staat. Ich gebe dem Schuhputzer ein paar Münzen in seiner mickrigen Landeswährung und er verabschiedet mich mit einer Meldung aus der Kriminalstatistik: Ich solle in der Stadt aufpassen, viele Diebe und Betrüger lauern in den Straßen Cochabambas.
Auf gereinigten Sohlen zur Touristenattraktion Cochabambas - dem Christo de la Concordia. Diese 34 Meter hohe Jesusstatue ragt zwei Meter höher als sein berühmter Zwilling in Rio. In symbolischer Gottesfurcht ist Cochabamba damit Weltrekordhalter (mittlerweile von Polen abgelöst). Den Erlöser der Menschheit schon in Sichtweite, fragt mich ein Mann mittleren Alters nach den Öffnungsseiten der Seilbahn zu Jesus und stellt sich als Marco aus Argentinien vor. Wir schlendern auf dem breiten Bürgersteig quatschend Richtung Jesus-Christus, als sich ein Polizist in den Weg stellt und mit autoritärem Gestus unsere Pässe einfordert. Ohne zu zögern gibt der nette Argentinier seinen Ausweis aus der Hand. Ich nicht!
Seit dem Tricküberfall auf die Australierin in Santa Cruz rangieren Polizisten, die auf offener Strasse Ausweise verlangen, ganz unten auf meiner Vertrauenswürdigkeits-Skala. Genau das sage ich dem gedrungenen Halb-Indigenen der daraufhin verärgert aus der zerknitterten Uniform zu mir heraufschaut. Doch noch gibt er nicht auf, quatscht immer fordernder auf mich ein, um am Ende mit einer letzten Attacke den respektlosen Gringo vielleicht doch noch zu bekommen - und zwar hinein in ein Taxi, das plötzlich direkt neben seiner anvisierten Beute mit offener Wagentür hält.
Die Alarmsirene in meinem Schädel kreischt auf. Einen Schritt zurück von der Wagentür, mich großmachen, tiefe, laute Stimme einsetzen, böse gucken. Erst jetzt lässt der Kleinkriminelle ab, steigt mit dem Argentinier ins Taxi und braust davon. Der Argentinier, das wird mir nun klar, war der Lockvogel. Gut ausgedacht. Die Passanten hier am hellichten Tag, waren sicher mein Vorteil. Oder? Nein! Wahrscheinlich hätte niemand eingegriffen. Der Einzige der zu dem von Räubern Bedrängten wirklich hinsah, war der Jesus aus Beton. Wohl genau deshalb brauchen sie in Cochabamba wie in Rio einen Super-Mega-Christus, der von einem Berggipfel aus die Stadt überwacht.
Abends in einem leeren Pub mit dem vielversprechenden Namen "Wunderbar", vergebends auf meine Verabredung warten - zwei bayerische Mädels aus meinem Hostal. Sie hätten sich so spät nicht mehr raus getraut, gestanden sie am nächsten Morgen. Im ganzen Ausgehviertel tote Hose. Nur vereinzelt junge bolivianische Männer. Aus einer schlauchförmigen Kaschemme dröhnt Hardrock. Ich entscheide: Zwei schlanke Jungs, einer mit Nirvana- der andere mit Metallica-Shirt sind zum Quatschen und trinken gut für mich.