Nach drei Jahren "Fernbeziehung" und nach drei heißen "Flirts" mit Dänemark braucht auch meine Frau die Bestätigung, dass sie immer noch die schönste Insel ist. Ich meine Sylt - ihre einstmals zweite Heimat und Lieblingsort - oder ist es das gar nicht mehr?
Mit gemischten Gefühlen reisen wir über Dänemark mit dem Schiff an und rufen von der Reling aus laut hinüber: "Huhu Sylt! In dieser Urlaubswoche sag uns nur Eines: Kannst du uns immer noch verzaubern?"
Auf Google Maps enttäuscht Sylt durch seine räumliche Beschränktheit. Es scheint als ob auf den schmalen Insel-Enden kaum mehr als zwei Handtücher nebeneinander passen. Überraschender Weise wirkt die Landschaft dann vor Ort sehr viel mächtiger als sie laut Karte sein dürfte.
Von einer Düne bei List schweifen die Blicke geschätzte 30 Kilometer nach Norden bis zum Ellenbogen. Die Karte zeigt jedoch gerade mal drei Kilometer! Als ob im Lister Dünenland eine Art Ausdehnungszauber herrscht, der jedes Maß verzehnfacht.
Dünen von 30 Meter Höhe wachsen mit jeder weiteren Horizontlinie hunderte Meter in den Himmel. Eine optische Täuschung. Sie funktioniert so wunderbar, weil das Gehirn versucht die Formen der Dünenreihen und Tälern in eine landschaftliche Schublade einzuordnen. Und solange kein Auto oder Verkehrsschild den korrekten Maßstab verrät, packt mein topografisches Gedächtnis das unbewaldete Listland in die Kategorie der Mittelgebirge vom Typ Abruzzen oder schottische Highlands.
Es grüßt uns eine alte Inselbekanntschaft - das Sylter Reizklima. Sein Willkommensgeschenk an jeden Neuankömmling ist eine rasante Beschleunigung des Stoffwechsels. Das macht müde, hungrig und mall im Kopf. Anders lässt sich meine idiotische Frage im feinen "Lister Fischhaus" nicht erklären:
Und zwar ob der "Tagesfisch" hier auf der Karte fangfrisch sei. Woraufhin der Kellner mich anschaut, als hätte ich um ein Dutzend schwarze Sklaven für mein Baumwollfeld gebeten. "Fangfrisch"? Niemals! Die Nordsee ist doch total überfischt, ob ich das denn nicht wisse?! Überhaupt sei Fisch hier keine so gute Wahl... Er empfiehlt uns den Burger, den esse er selbst auch immer.
Beschämt über den eigenen dummdreisten Fischhunger, schonen wir die dürftigen Restbestände des Nordatlantik und bestellen zwei Hamburger mit Nordseekrabben zum sagenhaften Stückpreis von 22,50 Euro!
Als ich eines Morgens beim Bäcker einen Smalltalk übers Wetter starte, heißt es recht schroff: Ist doch shiet-egal wie das Wetter wird, Hauptsache morgen Abend an Biike wird es schön!
Schon seit Tagen haben die Insulaner nur noch ihr Biikefest im Kopf. Das alte Brauchtum der Nordfriesen rangiert hier offenbar knapp hinter Weihnachten aber noch vor Ostern und sogar vor dem Surf-Cup. Kinder ziehen in aufgekratzter Stimmung alte Weihnachtsbäume zum Feuerplatz. Junge, ausgewanderte Sylter besuchen zur Biike die alte Heimat, Touristen strömen, die Spannung steigt.
In der Dämmerung mit Fackeln und Musik Richtung Westerländer Biikeplatz marschieren. Den Spielmannszug musste man vom Festland ausleihen, weil das Sylter Gemeinwesen nicht mehr viel hergibt.
Über den Exodus Alteingesessener und die Geisterorte aus Zweitwohnsitzen klagt dann auch der Bürgermeister der Gemeinde vor loderndem Feuer. Die Stimmung ähnelt einer Mischung aus Provinz-Wahlkampf, Totensonntag und Beerdigung. Während der Volksvertreter die katastrophale Zugverbindung anprangert, kommt mir diese merkwürdig paradox klingende Überschrift aus der Sylter Rundschau in den Sinn: "Noch mehr Wohnungen für Sylter". Wird hier wirklich ein Teilerfolg bejubelt oder schwingt da Ironie mit?
Trostlos auch die Reede einer Schülerin auf "Syltisch" (Sölring), weil sie sich beim Ablesen der fremden Laute ein ums andere mal verhaspelt. Man merkt, dass sie keine zwei Sätze der alten Inselsprache aus dem Kopf aufsagen kann.
Gelangweilt ins Feuer starren. Keine Musik, keine Stimmung und mehr Festländer als Insulaner. Vermutlich soll die Westerländer Biike auch gar kein Ort zum Feiern und schon gar nicht zur Touristen-Party werden. So verziehen sich die heimische Familien zum traditionellen Grünkohl-Gelage in ihre Häuser und Restaurants.
Als uns die ersten Clips von der Lister Biike via Youtube erreichen, reiben wir uns verwundert die Augen. Dort springen sie zu Hits von "Bambus Klaus" vogelwild ums Feuer wie die Strandräuber. Anarchische Freude blitzt in den Gesichtern der Lister, als eine lebensgroße Holzpuppe, die einen Pfarrer darstellt, in die Flammen stürzt. Wow! In List fackelt der Pfaffe in Westerland nur ein langweiliges Holzfass am Stiel.
Zitternd bricht die Frau neben uns die gebuchte Exkursion im winterlichen Watt ab - einfach zu kalt. Der pazifischen Felsenauster sollte es laut Experten ebenfalls zu kalt sein, um sich hier zu halten. Ein Irrtum, wie der mit Austern übersäte Meeresboden vor List verrät. Und wenn die Auster hier aushält, dann harren auch wir mit Eisfüßen in Gummistiefeln und lauschen der jungen Wattführerin:
Nachdem die europäischen Austern durch Überfischug dezimiert hier im Eiswinter von 1929 allesamt erfroren, breitet sich seit den 80ger Jahren ihr großer pazifischer Cousin in der Nordsee aus. Und der verdrängt die kleine, indigene Miesmuschel, die die Experten dadurch als gefährdet ansehen. Ein Irrtum! Denn die Miesmuschel ist flink und hat gelernt, sich unter der Auster vor den gefräßigen Eiderenten zu verstecken. Sie profitiert also von der Auster. Nun glauben manche Experten, dass die hübsche Meerente, die sich hier hauptsächlich von Miesmuscheln ernährt, verschwinden könnte. Man möchte gerne dagegen wetten.
Fakt ist: Nicht nur das Land auf Sylt ist teuer umkämpft auch im Wattenmeer wird gerungen.
Geschützt und verboten! Die herrliche Dünenwelt des Listendes befindet sich im Privatbesitz alteingesessener Erben und steht obendrein unter Naturschutz. Den sandigen Pfad hinein in die Wildnis darf man also nicht begehen. Überhaupt reduzieren solche Beschränkungen die Dünenlandschaft Sylts auf wenige kurze Wege und Aussichtspunkte. Die beiden mit Abstand längsten Dünenwege erstrecken sich jeweils nur knapp über einen Kilometer!
Sylt die Insel der Vorschriften und Verbote: Am Strand ist es nicht erlaubt Sandburgen zu bauen, nicht mal eine Auster darf man einsammeln. Wäsche darf zum Trocknen nicht zur Straße sichtbar hängen! Deshalb, und weil gerade niemand guckt, gehen wir den sandigen Pfad! Wenigstens ein kleines Stück hinein ins Lister Dünenmeer, hinauf auf eine bewachsene Höhe.
Von schweift der Blick über verbotenes Land hinweg bis nach Rømø, wo sich die Menschen freier bewegen dürfen als auf Sylt.
Sylter Touristik-Firmen bieten die große Freiheit, mit PS-starken-Jeeps und Buggies über die Sandbank zu heizen. Drüben in Dänemark! Unser Kellner berichtet, wie er im Geschäft dabei war, ein Jahr lang seinen täglichen Adrenalin-Kick und einen Heidenspaß gehabt hat. Am Ende überschlug sich ein Kunde mit Vollspeed und blieb querschnittsgelähmt.
Auf der Rückfahrt mit der Fähre erkennt man aus der Ferne die Action an Rømøs mega-breiten Südstrand, der eigentlich eine Sandbank ist. Jemand jagt mit seinem SUV über die spiegelglatte Wattfläche - ein Bild der Freiheit! Ein paar Kilometer weiter stehen die Camper Vans mitten auf dem Strand.
Obwohl dicht besiedelt, bietet Dänemark mehr natürliche Ressourcen pro Kopf, da kann es seinem Volk einige Freiheiten lassen. So dürfen Dänen unter Wasser mit Harpunen jagen und im Watt auf Eiderenten schießen. "Echte Kerle" haben auch heute noch die zweifelhafte Chance, gezielt den Kampf mit einem Heringshai zu suchen.
Klarer und blauer als landesüblich schimmert das Wasser am oberen Nehrungshaken in der Wintersonne. Selbst auf der Wattseite schimmert der Boden hell und das Wasser ist klar. Wir bedanken uns beim Wattwurm und der Auster für das fleißige Filtern der Elemente. Die Luft weht so rein und schadstofffrei wie noch nie seit Beginn der Messung vor über 50 Jahren (wie uns eine Grafik vor der Messstation Westerland zeigt).
Die ganze Landschaft atmet ein kleines Stück Freiheit - hier nördlich von List . Schafe vagabundieren ohne Absperrung übers Land. Und für sechs Euro gewähren die Lister Landbesitzer auch uns den motorisierten Zutritt zur kleinen Freiheit auf dem Ellenbogen. Dort darf man durch die Dünen streifen wie man will und über das wogende Grasland hinweg laut in den Wind rufen: Yee-haw!!!
Huhu Sylt!
Trotz all Deiner Schwächen: Zum Beispiel im Süderheidetal! Dort versperrten uns die umzäunten Villen den Weg zum Strand. Keine Menschenseele weit und breit, die man nach dem Weg fragen kann. Ein saisonaler Geisterort. Erst nach langer Suche entdeckten wir den einzigen öffentlichen Durchgang, der offenbar ganz bewusst versteckt gehalten wird und wir fragen uns: Ist das noch unsere Insel?
... Wie auch immer: Du hast uns erneut ein glückliches Grinsen ins Gesicht gezaubert. Wir kommen wieder!
Zum Abschluss noch eine kleine Foto-Galerie. Tschüß Sylt!