Selbstverständlich hatten wir Rügen als Sommer-Reiseziel kategorisch ausgeschlossen.
Jedoch: Wer von Rügen spricht, meint stets dessen östliche Hälfte mit Kreidefelsen, Badeorten und Tamtam. Doch wie ist Rügens Westseite?
Eine Bekannte, die auf Rügen groß wurde, muss es wissen und gesteht uns ihre komplette Ahnungslosigkeit.
Wow! Dass selbst einheimische Insulaner noch nie einen Fuß dorthin oder nach Hiddensee gesetzt haben, macht meine Frau und mich neugierig auf die vier Tage an der Westseite. Sozusagen an der Hinterbacke Rügens.
"Wir leben hier am Arsch", erklärt uns die Hotelfachkraft von Schaprode. So könne sie die Buchungen und Überweisungen immer nur nachts abarbeiten. Warum? Na weil die schmale Internetverbindung tagsüber nicht mal für die Hotelgäste reicht. Im Osten von Rügen, wo das dicke Geld gescheffelt wird, wäre das undenkbar. "Aber wir sind ja hier bloß ein Urlaubsort in dritter Reihe!"
Deshalb kann man in manchen Restaurants auch nur in bar zahlen. Und der nächste Geldautomat? Fast 20 Kilometer weg in Gingst oder in Wiek, aber da müsste man mit der Fähre rüber. "Den Automaten hier in Trent ham se ja abgebaut...".
Ummanz, Gingst, Kluis, Trent, Schaprode: So klingt die dritte Reihe. Doch ist sie auch dritte Wahl?
Wir schauen uns um. Eine dralle Frau stapft in Wathose mit Angelrute über den Hotelhof. Ihre Augen leuchten, denn unter Anglern gelten die fischreichen Boddengewässer Westrügens als Top-Wahl. Sogar aus Dänemark kommen Sie herüber.
Ein sportlicher Frührentner tourt für ein paar Tage mit dem Rad von Schaprode aus. Weil hier noch Platz ist und kein Massentourismus. Platz und Ruhe für unbeschwerte Sommertage auf dem Land. So wie früher, bevor der Kommerz den Ostteil der Insel in einen touristischen Shopping- und Freizeit-Zirkus verwandelte.
Soll der Zirkus ohne uns toben! Lieber leihen wir uns Fahrräder aus und erkunden hier die vielleicht letzte erholsame Region auf Rügen. Aber die Frau an der Rezeption winkt ab: "Ilonas Radverleih gibt's nicht mehr. Hat sich nicht gelohnt hier draußen ."
Zu Fuß über Feldwege. Insekten summen. Kornfelder dehnen sich gelb und groß zum Horizont. Mittendrin ragen die Baumgruppen der alten Gutshöfe wie Inseln aus dem Gräser-Meer. Der Spaziergang über staubige Pisten zu den stattlichen Herrenhäusern von Libnitz und Granskevitz gleicht einer Zeitreise. Wie vor 100 Jahren umschließen die ausgedehnte Ländereien landwirtschaftlicher Produktion ihren Gutshof.
Natürlich ein Highlight.
Nur wenige Schritte auf diesem Mini-Eiland hügelaufwärts und man genießt die Aussicht vom 70 Meter hohen Dornbusch. Am Horizont winkt die Kreideküste der dänischen Insel Mön. Auf der anderen Seite schweift der Blick über den Nordosten Hiddensees mit seinen zwei Nehrungshaken, die sich im seichten Bodenwasser strecken. Dahinter ganz Rügen bis zur Stubbenkammer..
Doch irgendetwas missfällt uns an dieser Insel. Zuerst können wir nicht ausmachen, was es ist. Erst als wir auf der Rückfahrt unser Urlaubsdorf Schaprode erblicken, wird mir klar: Hiddensee leidet unter einem Missverhältnis. Die Häuser ragen zu hoch, wirken zu klobig für das schmale Inselchen. Falsche Materialien und Architektur machen sie zu glotzenden Fremdkörpern in der Landschaft. Das gilt zumindest für den Norden mit den Hauptorten Vitte und Kloster.
In Schaprode stimmen diese Verhältnisse. Auch das zwischen Touristenzahl und Landschaft. Vermutlich das schönste Dorf des Archipels.