1. Rosa Granitküste und Brehat
2. Saint Malo und Mont Saint Michel
3. Douarnenez und Pointe du Raz
5. Roscoff und Ile de Batz
Richtung Osten: nach Saint-Malo, zu den großen Buchten St.-Brieuc und St-Michel mit Muschelfischerei, enormen Tidehub, steilen Kaps und Wattflächen. Doch vorher wird mir in der Pension am Frühstückstisch mit unverschämter Freundlichkeit die Nazizeit aufs Crepe geschmiert. Bretonen sind auch Franzosen. Sobald ein Deutscher mit am Tisch hockt, weiden sie sich genüsslich an ihrem aktuellen Lieblingsthema – der deutschen Besatzung und ihrem heldenhaften Widerstand. Als wäre das alles letzte Woche passiert!
Genau in diesem Sinne fühlt sich meine Wirtin Malou mit einem Iren verheiratet, obwohl dessen Vorfahren bereits im 17. Jahrhundert eingewandert sind. Historisches und Aktuelles scheinen für sie, die in einem 500 Jahre alten Haus wohnt, zeitlich nicht bedeutend auseinander zu liegen. Doch dann unterscheidet Malou recht pragmatisch und meint: Ich soll nicht nach Paimpol fahren. Die Zeit der Islandfischer dort ist doch längst vorbei und nur noch Touristenboote im Hafen. Besser für mein aktuelles Lieblingsthema - das Maritime - wäre Erquy.
Also Stoppover in Erquy - der Hauptstadt der Jakobsmuschel. In einem billigen Kneipencafe mit Blick auf die weite Bucht von St Brieuc, steht der alte Fischer Guy zufrieden in Gummistiefeln mit einem Glas Rotwein am Tresen. Nach der "Coquille Saint Jacques" fische er schon seit 20 Jahren nicht mehr, zu starke Reglementierungen. Aber früher, oh ja - „mais oui“! Heute Mittag ist außerhalb der Muschelsaison im Fischereihafen kaum Betrieb. Augenscheinlich schlemmen alle Leute von Erquy gerade in den Fischrestaurants, wo sie einem als Aschenbecher eine Jakobsmuschelschale reichen.
Gut 70 Meter über dem Ärmelkanal wimmelt es vor Besuchern. Sie singen alle das alte, romantische Lied vom erhabenen Gefühl, hoch über der Welt zu stehen und sich im Angesicht der Naturgewalt groß oder klein oder einfach nur frei zu fühlen. Eine Frau macht Yoga. Aber das speziell spannende an französischen Klippen besteht darin, dass sie meist ohne Absperrungen auskommen. Und dass es die Kerle hier lieben, publikumswirksam die offiziellen Wege zu verlassen und schwindelfrei bis auf den äußersten Vorsprung zu balancieren – sogar in den brüchigen Sandsteinklippen von Frehel. Kurioser Weise weht auf diesem windumtosten Kap an diesem Tag kein Windhauch, was mein Picknick, drei Schritte vom Abgrund entfernt, entspannter macht.
Zwei Übernachtungen auf der Festungsinsel sind eine mega-maritime Wahl. Keine Stadt liegt so sehr am Meer wie Saint Malo. Bei Flut gibt es keinen Strand mehr zwischen der schäumenden See und den Wohnhäusern. Von drei Seiten schlagen die Meereswellen direkt an die Stadtmauer. Wie gigantische Elefantenfüße stemmen sich die runden Ausbuchtungen dieses Bollwerks in den Meeresboden und halten stand.
Grandioser Rundgang auf der umspülten Festungsmauer, von der in Stein gehauen der verehrteste Bürger - ein Pirat - wild und verwegen aufs Meer in Richtung England blickt. Innerhalb der Mauern in "Intra Muros" sind die schattigen Häuserschluchten von einer dichteren Atmosphäre befüllt. Es riecht. Aus den Poren des dunklen Granits, aus den Flechten auf den Gauben, ja sogar aus den Rohren und Wasserhähnen strömt stetig und durchdringend dieser feine, brackiger Algengeruch - muffig und maritim.
Draußen beim Sunset-Bierausschank auf der Mauer lassen mich die Maloises eine überlegene, selbstbewusste Gelassenheit spüren, wie ich sie sonst nur von coolen Hauptstädtern kenne. Die größte Überraschung dieser einstigen Korsaren-Bastion bietet das heimische Bier, bei dem es sich - anders als sonst in Frankreich - fast um ein friesisch-herbes Pils handelt. Darauf ein großer Schluck mit Blick hinab auf ein gezacktes Miniaturgebirge aus Granit, über das ich gleich bis bis zur Insel des Fort National laufen muss, bevor es die Flut mir entzieht. Ob ich den Seenebel heute morgen miterlebt habe, fragt mich eine Frau auf dem Meeresboden zwischen Insel und Stadtmauer. Sie erklärt mir, dass Saint Malo eigentlich kaum zur Bretagne und noch weniger zur Frankreich gehört. Hinter dieser nur über zwei Zugbrücken erreichbaren Festungsmauern schlage immer noch das Herz einer unabhängigen Seerepublik, die den Verkehr auf dem Ärmelkanal und zu den verwandten Nachbarinseln Jersey und Guernsey beherrscht. Fremde Schiffe zu entern und auszuweiden ist jedoch nicht mehr notwendig. Heute spaziert die Beute freiwillig durch die Stadttore herein - als Tourist.
Auf der Jagd nach dem Super-Maritimen mit eisernem Willen alle Kirchen gnadenlos links liegen gelassen. Keine Zeit für Gotteshäuser. Doch der Klosterberg von Saint Michel reißt mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Schlaf, lässt mich das Frühstücks-Croissant schlingen und auf der Autobahn Vollgas geben. Einzig um ihn vor dem Ansturm der Massen zu erleben. Weil der Mont Saint Michel viel mehr darstellt als bloße klerikale Baukunst. Er ist der märchenhafte Bestandteil einer maritimen Landschaft, ohne die das alles nur so la la wäre.
Also: Mit drei Dingen und einer Sensation will ich vom Klosterberg überwältigt werden. Erstens: Von der Strahlkraft seiner Silhouette auf der großen Wattfläche. Wow! Zweitens: Mit den Ausblicken aus 120 Meter Höhe steil hinunter auf Priele und Sandbänke. Manifique! Und Drittens: Mit einer von Meeresfeuchte erzeugte Mega-Patina des uralten Gemäuers. Extraordinaire! Zwei Sensationen kommen hinzu: Erstens: Wenn die Flut (15 Meter Tidehub!) an den wenigen Tagen mit hohem Gezeitenkoeffizient als Welle förmlich angerollt kommt und ihn zu echten Insel macht, wofür ich leider ein paar Tage zu früh hier bin. Merde! Weshalb all meine Hoffnungen in der zweite Sensation liegen: Wenn die tief stehende Sonne den Klosterberg zum Leuchten bringt und gleichzeitig dunkle Gewitterwolken über die Bucht ziehen. Bingo!
Erst ein Klack und dann nochmal Klack ... klack, klack!
Ich traue meinen Augen kaum, doch es regnet tatsächlich Muscheln in Cancale - der Austernhauptstadt an der Bucht Saint Michel. Clevere Möwen lassen Austern aus grosser Höhe auf den Asphalt fallen, um sie zu öffnen. Die Menschen kaufen das Dutzend für 3,80 Euro. Meterhoch türmen sich die Schalen am Strand, dazwischen ausgelutschte Zitronen. Der Feinschmecker verzichtet selbstverständlich auf jede Zutat und schlingt die Auster roh und lebend - so wie die Möwen.
Wer keine Austern mag, isst Miesmuscheln, die im flachen Wasser vor Vivier-sur Mer geerntet werden. Dort rollen auf dem Hafengelände amphibische Erntebote auf Rädern umher.